Wir haben in einem früheren Post über das neue Zweitmeinungsportal vorsicht-operation.de berichtet. Bei diesem kann man sich als Patient vor einem geplanten Gelenkersatz oder einer Operation an der Wirbelsäule ein ärztliches Gutachten erstellen lassen, das auf anamnestischen Angaben und einem ausführlichen Fragebogen zum aktuellen Gsundheitszustand basiert. Die Kosten für diese ausführliche Zweitmeinung betragen 200 bis 600 Euro.
Das aktuelle Ärzteblatt (welches ich zugegebenermaßen selten lese, sondern eher durchblättere) berichtet nun, dass der NAV-Virchow-Bund die 9 bei Vorsicht!Operation beschäftigten Ärzte bei den zuständigen Landeskammern angezeigt hat. Dem Zweitmeinungsportal wird vorgeworfen, gegen die ärztliche Berufs- und Gebührenordnung zu verstoßen sowie Haftung und Datensicherheit außer acht zu lassen. Der NAV-Virchow-Bund warnt vor "Diagnosen aus dem Schaukelstuhl" und fordert, das Portal umgehend prüfen zu lassen. Jeder Patient könne sich eine Zweitmeinung zu wesentlich geringeren Kosten bei einem anderen Praxisarzt einholen. Der Bundesärztekammer-Präsident Frank Ulrich Montgomery sieht "das Angebot ambivalent, aber nicht negativ". Er betont, dass für das Portal renommierte Ärzte arbeiten und auch Röntgenbilder online zuverlässig beurteilt werden können. Montgomery äußert sich allerdings dahingehend kritisch, dass er für eine qualifizierte Zweitmeinung eine klinische Untersuchung für unabdingbar hält.
Der NAV-Virchow-Bund ist der einzige freie ärztliche Verband, der ausschließlich die Interessen aller niederlassungswilligen, niedergelassenen und ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte aller Fachgebiete vertritt. Es erscheint also plausibel, dass sich die Praxisärzte vom Konkurrenzpotential des Portals bedroht fühlen. Sollte sich ein solcher Anbieter als rentabel erweisen, wäre dies eine Zukunftsvision, die sicherlich berechtigt Existenzsorgen einiger Praxen auslösen würde. Wie viele Menschen würden sich wohl - anstatt in übervollen Wartezimmern stundenlang den Tag vergehen zu sehen - wohl lieber eine Zweitmeinung mit einigen Mausklicks einholen? In unserer getakteten zeitoptimierten Welt sicherlich viele! Natürlich gibt es hierfür Grenzen, für die meisten Diagnosen und insbesondere Therapieempfehlungen ist ein persönlicher Kontakt mit Untersuchung unabdingbar. Nachdem ich aber selbst einige Jahre in der Erwachsenenorthopädie tätig war und einige Erfahrungen in der Endoprothetik und auf dem Gebiet der Wirbelsäulenchirurgie gesammelt habe, wage ich die Behauptung, dass für die Indikation eines Gelenkersatzes an Knie oder Hüfte eine Untersuchung nicht zwingend erforderlich ist, hängt der richtige Zeitpunkt der Operation doch überwiegend von den Beschwerden und der noch verbliebenen Lebensqualität ab, natürlich immer in Verbindung mit dem "richtigen" Röntgenbild. Das Bewegungsausmaß des Gelenkes und eine Beinlängendifferenz spielen zwar möglicherweise für die Operationstechnik und Endoprothesenauswahl eine Rolle, sind für die Operationsindikation jedoch unwichtig.
Hinzu kommt, dass die Spezialisten, die letztendlich eine solche Operation auch ausführen, sich meistens an Kliniken befinden und für eine Zweitmeinung besser geeignet sind als der nicht-operierende Praxisarzt, der dem NAV-Virchow-Bund für diese Aufgabe prädestiniert erscheint.
Sicher werden die Dienste des Zweitmeinungsportals überwiegend Besserverdienenden zugute kommen, allerdings haben auch schon Krankenkassen Interesse bekundet, die Kosten zu übernehmen. Die Nachfrage ist jedenfalls bereits jetzt immens.
Sollten wir uns nicht auch deshalb fragen, warum Patienten sich lieber an einen Online-Spezialisten wenden und keine Kosten scheuen, als den persönlichen Kontakt eines Arztes auf Krankenkassenrechnung zu suchen? Es scheint da einiges Vertrauen verloren gegangen zu sein!
Neben der Klage gegen das Portal müssen niedergelassene Ärzte jetzt auch selbstkritisch genug sein, um zu erkennen, dass Patienten auch selbstbewusste Kunden und nicht ergebene Schäfchen sind, die ihre Selbstständigkeit an der Praxistür des Halbgottes in Weiß abgeben, nachdem sie bereits Wochen auf einen Termin gewartet haben und dass diese Kunden auch einen Service geniessen wollen, der damit beginnt, dass sie in einem angemessenen Umfeld aufgenommen und respektvoll bis zum Verlassen der Praxis behandelt werden. Und dazu gehört auch ein gutes Zeitmanagement des Praxisablaufes.
Was meint ihr Orthopädinnen, Orthopäden, Ärzte und Nichtärzte da draußen? Findet ihr ein solches Zweitmeinungsportal moralisch bedenklich?
Über eure Kommentare freut sich
Beate Schnuck
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen